Hochsensibilität wurde hauptsächlich durch eine psychologische Betrachtungsweise publik. So drehen sich sehr viele Themen, die HSPs betreffen, um die psychische Struktur und um den Umgang mit dieser. Das ist zwar sehr, sehr wichtig und für viele HSPs auch der entscheidende Schritt zu sich selbst. Hochsensible haben aber auch einen hochsensiblen Körper, der wie die geistige Struktur teilweise „anders“ funktioniert, ja auch deshalb anders funktionieren muss, weil Psyche und Körper natürlich in enger Beziehung zu einander stehen. Das Einbeziehen der psychischen und seelischen Komponenten ist also gerade bei HSPs von entscheidender Bedeutung. Gerade bei dem zentralen körperlichen Thema Ernährung können sich auch tiefere seelische und psychische Themen nach außen abbilden und dadurch sichtbar werden. Eine tiefere Beschäftigung mit dem Essen kann daher auch Psyche und Seele positiv beeinflussen. Es lohnt sich also gleich mehrfach, in das Thema einzutauchen. Für so manchen Hochsensiblen ist dieses Thema aber nicht gerade leicht, drückt sich doch hier, offener als meist gewünscht, der Konflikt zwischen dem Wunsch nach „Normalität“ und der vorhandenen Empfindsamkeit aus. Dieses Wechselspiel zeigt sich in verschiedensten Facetten, der Individualität des hochsensiblen Menschen geschuldet. Dennoch gibt es einige Gemeinsamkeiten, die zu kennen hilfreich sein kann. Damit der Umgang mit dem Essen für HSPs leichter wird, ist es vielleicht ganz gut, drei Fragen zu klären:
1. Warum sollten gerade HSPs sich sehr bewusst ernähren? (Teil 1)
2. Was wäre sinnvoll zu beachten, oder einen Versuch wert? (Teil 2)
3. Wie geht man vor, und welche Umstände sind noch wichtig? (Teil 2)
Natürlich sollten sich möglichst alle Menschen gut und bewusst ernähren, aber es gibt für HSPs triftige Gründe, weshalb das Essen einen besonderen Stellenwert im Leben erhalten sollte. Um nicht lange um den heißen Brei herum zu reden, fange ich gleich mit der ersten Frage an.
1. Warum sollten HSPs sich sehr bewusst ernähren?
A) HSPs haben aufgrund
der erhöhten Reizverarbeitung (sie nehmen mehr Eindrücke auf und verarbeiten diese gründlicher) und des damit verbundenen angeregten bis übererregten Zustands des Nervensystems auch häufig einen höheren stofflichen Verbrauch, und ein Mangel ist schneller und deutlicher fühlbar. Unter Stress verbraucht ihr Körper noch mehr Vitalstoffe. Der Bedarf an Vitaminen, Mineralstoffen, Antioxidantien, etc. ist dann auf dem Niveau dessen eines Leistungssportlers, und bedingt so eine deutlich erhöhte Zufuhr an lebenswichtigen Vitalstoffen. Oft eskalieren Verdauungsprobleme deshalb nach länger andauernden Stressphasen.
B) Die gründlichere Verarbeitung von Reizen gilt oftmals auch für Nahrungsmittel. Besonders
Essen, das aus vielen
verschiedenen Komponenten besteht oder teilweise nicht wirklich vertragen wird, kann den Körper schnell
überfordern. Denn auch alle anderen Eindrücke wollen, neben dem Essen selbst, „verdaut“ werden. Je nach Eindrücklichkeit und Menge der aktuellen Erlebnisse kann die aufgenommene Mahlzeit schon mal auf der Prioritätenliste nach unten rutschen, kurz: sie verbleibt dann zu lange im Körper, kann nicht gut „losgelassen“ werden, oder durchläuft den Körper zu schnell, so dass von ihm nicht genügend im Essen enthaltene Nährstoffe aufgenommen werden. Körperlich spielen dabei oft ein saftloser Magen, ein Gallesäurenmangel, entzündliche Reizzustände im Darm und vor allem ein energieloser Darm eine wichtige Rolle.
C) Sie reagieren schneller und
ausgeprägter
auf
Genussmittel, auf Lebensmittelzusätze und Wirkstoffe aller Art.
D) Sie haben sehr häufig eine
Neigung zu Entzündungen und Reizungen, die sich entsprechend der Thematik auch im Magen und Darm zeigen können. Diese sollten immer zusätzlich medizinisch abgeklärt werden. Nicht selten stecken unerkannte Intoleranzen und Unverträglichkeiten dahinter, wie z.B. Laktoseintoleranz, Allergien oder andere Geschehen.
E) Einige Magen-Darm-Probleme können aus einem
Säure- und Enzymmangel
heraus entstehen. Konkret: Es fehlt nicht selten an Magensäure (auch das kann zu einer Reizung, Entzündung oder Mangelernährung führen), an Gallensäure und an Verdauungsenzymen der Bauchspeicheldrüse. Medizinisch ließe sich das auch aus der speziellen Reizverarbeitung herleiten. Dabei kann es zu einer erhöhten Aktivierung des Sympathikus kommen, im Sinne eines Flucht- oder Kampf-Modus. Der Sympathikus reduziert dabei die Durchblutung und Leistung der Bauchorgane. Solange man also "unter Strom" steht, bleibt die Verdauung auf Sparflamme. Folglich kommt es zu einem saftlosen Magen, einer verminderten Gallensaftproduktion, und ohne diese wird auch die Bauchspeicheldrüse nicht richtig aktiviert. Es kommt also zu einer Mangelverdauung und damit zur Mangelaufnahme der Nährstoffe und Vitalstoffe.
Auf der Gefühlsebene könnte ich mir vorstellen, dass noch ein anderer Faktor vielleicht eine Rolle spielen könnte. Um Nahrung passend aufzuschließen (in der Naturheilkunde heißt dieser Vorgang auch treffenderweise „überwinden“), braucht es „aggressive“ Säure. Die Nahrung muss also regelrecht „bekämpft“ werden, um für den Körper passend gemacht zu werden. Viele HSPs haben weniger Aggressionen oder neigen dazu, ihre vorhandenen Aggressionen zu unterdrücken. Vielleicht zeigt sich genau das auch auf der körperlichen Ebene.
Ist in diesem Sinne also die Konzentration der Säure schon im Magen zu gering, kann die Weiterverarbeitung im Darm nicht richtig ablaufen. Kommt dann noch ein „Zurückhalten“ der Gallensäure aus der Leber und der Enzyme aus der Bauchspeicheldrüse dazu, kann die Nahrung nur bedingt aufgeschlossen und verdaut werden. Hier könnte man sagen: Je weniger Aggression vorhanden ist oder je stärker sie unterdrückt wird, desto mehr Probleme können sich einstellen.
Vielleicht ist das auch einer der Gründe, wieso HSPs „friedliche“, „freundliche“ und natürliche Lebensmittel einfach besser vertragen: Sie fügen sich leichter in den harmonieliebenden Körper ein, ohne „überwunden“ werden zu müssen. Aber wie schon gesagt, das ist nur eine These.
F) HSPs kommen schneller und leichter in einen Zustand der Überstimulation: z.B. durch
zu hohe Außenreize wie Lärm, Hitze, Kälte, zu starke Gerüche, Menschenansammlungen; daher spielt das „Wo nehme ich mein Essen zu mir?“ und das „Mit wem?“ eine
wichtige Rolle. So können beispielsweise Geschäftsessen eine besondere Herausforderung darstellen, da hier der Fokus nicht auf Entspannung liegt. Eine entspannte, ruhige Atmosphäre während des Essens wirkt sich dagegen besonders positiv auf den Prozess der Nahrungsverarbeitung aus.
G) Hochsensibilität geht auch mit Besonderheiten im Neurotransmitterstoffwechsel einher. Neurotransmitter werden als Botenstoffe im gesamten Körper genutzt. Sie übertragen chemischen an Synapsen die Erregung von einer Nervenzelle auf andere Zellen. Sie sind im gesamten Körper aktiv, und somit auch im Darm. Der Darm eines HSPs reagiert aufgrund der leichteren Erregbarkeit des Nervensystems und des damit verbundenen intensivierten Neurotransmitterstoffwechsels besonders empfindsam auf Stress und Informationen aus der Nahrung. Viele Hochsensible haben deshalb Schwierigkeiten mit der Bekömmlichkeit des Essens, besonders wenn Aspekte wie Tierleid, Lieblosigkeit, Hektik beim Essen usw. mit aufgenommen werden.
H) Die bereits erwähnte
Überstimulation geht nicht selten mit einer
Ausschüttung größerer Mengen der Hormone Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol
einher, und diese sind eigentlich die „Gegenspieler“ einer entspannten Verdauung. Statt zu einem entspannten Verdauungsprozess beizutragen, versetzen sie den Körper im „besten“ Fall in eine Erwartungshaltung, im schlimmsten Fall in einen Kampf- oder Fluchtmodus. Diese dabei freigesetzten Hormone müssen dann erst einmal vom Körper wieder abgebaut werden, bevor er sich wieder der Verdauung widmen kann. Bei vielen HSPs sind genau diese Hormonwerte auch häufig erhöht, daher sind auch anhaltende Verdauungsbeschwerden nicht gerade verwunderlich.
I) Darüber hinaus bedeutet Überstimulation auch meist
Stress für den gesamten Körper und Stress setzt auch
Histamin, ein weiteres Hormon frei. Hält dieser Zustand zu lange an, kann er zu einer Histamin-Intoleranz oder „Histamin-Überladung“ führen. Stress schwächt zusätzlich die Verdauungskraft und verstärkt alle bereits bestehenden Probleme.
J) Eine weitere hormonelle Komponente ist das
leicht zu aktivierende Dopaminsystem. Verschiedene Bestandteile aus Lebensmitteln haben für HSPs eine zu anregende Wirkung und führen schneller zu einer Übersteuerung. Zu diesen dopaminaktivierenden Substanzen gehören verschiedene Medikamente und Drogen, Alkohol, Koffein, Nikotin, sowie Gluten und Milcheiweiß.
K) Auch die
höhere Schmerzempfindlichkeit kann eine Überstimulation begünstigen, mit den bereits erwähnten Folgen. Dazu habe ich wieder eine zusätzliche Vermutung hinsichtlich der Verdauung: Lebensmittel, die während oder kurz nach körperlichen oder starken seelischen Schmerzen verzehrt werden, werden später nicht mehr gut vertragen. Dies kann daran liegen, dass diese Lebensmittel zu lange für die Darmpassage brauchten oder daran, dass sie mit dem negativen Reiz/der Überstimulation assoziiert werden und der Körper das Signal sendet, deren Aufnahme zukünftig zu vermeiden. Dieser Mechanismus kann zu Aversionen führen, die mit Symptomen verbunden sein können, die Intoleranzen sehr ähnlich sind.
L) Die
Empfindungsebene sollte möglichst umfassend
mit einbezogen werden, kurz: Eigene Neigungen, die bereits erwähnte Umgebung, Art und Weise der Zubereitung der Lebensmittel, die Qualität sowie ethische Konzepte (viele sind Vegetarier), spielen eine wichtige Rolle.
M) Aus den bereits geschilderten Themen entstehen daher
leichter Lebensmittel-Intoleranzen, die unbedingt Beachtung finden sollten. Gleiches gilt für die
allgemeine Neigung zu echten Allergien. Viele Hochsensible vertragen „normales Essen“ schon wegen ihrer Intoleranzen oder Allergien nicht.
N) Oft gibt es bei HSPs eher eine
Abneigung gegen Veränderungen und somit die Tendenz, auch beim Essen immer das Gleiche zu wählen, was zu Mangelerscheinungen führen kann.
O) Und zuletzt: HSPs haben die
Neigung zum Perfektionismus. Sie streben nach Vollkommenheit bei sich selbst und im Außen. Das kann dazu führen, dass Körpersignale wie Hunger zugunsten einer Idealvorstellung des eigenen Körpers übergangen werden, und lieber gefastet wird oder, ein anderes Beispiel, man hält sich in Gesellschaft „vornehm“ zurück, weil man nicht als gierig erscheinen will.
Diese Idealvorstellungen können sehr weit gehen. Auch schwerwiegende Themen wie Anorexie, Bulimie und andere Essstörungen möchte ich zumindest erwähnen. Diese können anfänglich gut verdeckt, sogar vor den Betroffenen selbst, ihren Anfang nehmen, da ein „anderes“ Essverhalten mit Intoleranzen und Allergien, die ja tatsächlich da sein können, erklärt werden kann. So gibt es Hochsensible mit längerdauernden Verdauungsproblemen, die dann auch unter den entsprechenden psychischen Symptomen zu leiden beginnen. Zur Ausbildung einer echten Essstörung kommt es aber meist dann, wenn zusätzlich ein Verlust der körperlich-psychischen Eigenbestimmtheit hinzukommt. Hier ist es wichtig sich einen ehrlichen Überblick über die eigene Situation zu verschaffen.
Diese Liste ist sicher nicht vollständig, kann aber schon einmal einen Überblick geben und soll gerne zum weiteren Nachdenken anregen.